Geschichten

Meine Kindheit in der Firma Ruhe

Man wird es mir kaum glauben, aber es ist die reine Wahrheit: Ich bin sozusagen unter Affen groß geworden. Und das kam so:
An der Kalandstraße Nr. 20 steht heute die supermoderne Glas-Betonbau-Orientierungsstufen-Schule. Die ist noch nicht lange da. Vorher waren dort etliche ältere Gebäude mit der Nr. 17. Die gehörten der Firma Ruhe. „Import und Export exotischer Tiere und Vögel“ stand daran. Als ob Vögel nicht auch Tiere wären! Aber Vögel, das war wichtig. Ganz zuerst wurden nämlich Kanarienvögel exportiert, d. h. ins Ausland geschickt. Hier stand das größte Kanarienexporthaus der Welt. Und in dem Haus bin ich im März 1915 geboren. Wie das kam?Meine Eltern wohnten dort. Mein Vater war nämlich Obertierwärter und verantwortlich für die vielen Tiere, die überall in der Welt für zoologische Gärten oder Zirkusunternehmen gefangen und dann hierher nach Alfeld gebracht worden waren.

Firma Ruhe im Jahre 1959, vom Haupthaus aus

Vielleicht kann man sich vorstellen, wie interessant meine Kindheit war. Nicht nur interessant und spannend, oft auch gefährlich.
Da kam zum Beispiel einmal mit einem Transport aus Indien eine Riesenschlange an, eine Python reticulatis. Ungefähr sieben Meter war sie lang. Die sollte mein Vater messen, ehe sie in den Käfig gelegt wurde. Mein Vater nahm den Kopf in seine Hände. Die anderen Wärter, die den Rumpf halten sollten, griffen jedoch nicht schnell genug zu, und blitzschnell war mein Vater von der Schlange umwunden. Fast wäre er von ihr erdrückt worden. Wie sehr man sich auch bemühte, man konnte das kostbare Tier nicht vom Körper meines Vaters lösen, man musste die Schlange töten. Nie hat mein Vater über diesen Unfall mit uns gesprochen. Die anderen Angestellten haben es uns erzählt.
Meine Eltern hatten schrecklich viel zu tun den ganzen Tag und nie Zeit für uns Kinder. Wie die Sinti, die Zigeuner, wuchsen wir so nebenbei auf!
Mein Vater war oft Tag und Nacht auf den Beinen, weil er nämlich auch nachts nach seinen kranken Schützlingen sehen musste. Meine Mutter musste kochen und kochen und kochen. Nicht nur für die Familie! Nein, auch für die Leute, die die Tiertransporte nach Alfeld begleitet hatten. Inder, Afrikaner, Südamerikaner saßen mit uns am Tisch. Und für die gesunden und kranken Tiere musste sie auch kochen.
Ich erinnere mich an einen Indienimport. Da waren 24 Töpfe Reis nötig! Für die Kanarienvögel 300 Eier hart zu kochen, war bestimmt keine Seltenheit. Da blieb keine Zeit für uns Kinder.
Aber wir konnten herrlich spielen auf dem großen Hof, wenn das auch nicht immer ungefährlich war.
Einmal ging meine Schwester auf den Hinterhof. Da war sie plötzlich von Löwen umringt. Den Schreck kann man sich vorstellen! Was war passiert? Ein Wärter hatte die Außenkäfige gereinigt und vergessen, die Gittertüren zu schließen. Und was passierte meiner Schwester? Von den Löwen gar nichts, die fing man wieder ein. Aber von meinem Vater bekam sie eine Abreibung, mit dem Hosenriemen versteht sich, und das Gebot, den Hof nie wieder zu betreten.
Ein anderer Wärter hatte einmal nach der Reinigung der Käfige im Raubtierhaus den falschen Schieber gezogen, und die Löwen sprangen in den Gang zwischen den Käfigen. Aus Angst kroch der Wärter in den Käfig, machte den Schieber zu und schrie um Hilfe. Das war eine Arbeit, bis man die Tiere wieder hinter und den Menschen vor die Gitter bekam! Zum Glück war keiner von uns Kindern ins Raubtierhaus gekommen. Mein kleiner Bruder war damals erst sechs Jahre alt, das hätte gefährlich werden können.

Bruder Fritzchen und seine Freunde

Einmal war ein Nebelparder – der ist kleiner als ein Leopard -ausgebrochen. So sehr er auch gesucht wurde, er war unauffindbar. Nach der Schule spielte ich mit meinen Freunden Verstecken auf unserem großen Gelände. Ich kroch in den Heizungsschacht unter dem Antilopenhaus. Ein leises Fauchen und zwei drohende Augen zwangen mich zum Rückzug. Schnell schloss ich den Heizungseingang und berichtete unserem Vater, was ich gesehen hatte. Da bekam ich aber nicht etwa ein Dankeschön, sondern eine gehörige Abreibung wegen der Gefahr, in der ich mich befunden hatte. Natürlich wurde dann der Nebelparder eingefangen und an seinen richtigen Platz gebracht.
Aufregung gab es immer genug. Da kam eines Tages ein Transport mit Eisbären auf dem Alfelder Bahnhof an. Man öffnete die Waggontür und heraus sprang ein Eisbär. Was war zu tun? Die Wärter hatten Glück, dass die Tür der Herrentoilette offen stand und der Bär in die Tür gedrängt werden konnte. Eine neue Transportkiste wurde vor der Tür aufgestellt, und man konnte so den Bären wieder einfangen. Wie es dazu kam, dass der Bär ausgebrochen war? Ganz einfach, der Bär hatte mit seinen Krallen und Zähnen die Transportkiste zerstört, weil er seine Freiheit wiederhaben wollte.

August Mölker mit seiner eingeübten Dressur

Eine andere Sache geschah bei einem Transport aus Indien. Es waren bestimmt einige hundert Rhesusaffen angekommen. Ein Wärter hatte das große Pech, dass er einen Käfig nicht richtig verschloss und etwa 30 Affen in die Freiheit stürmten. Affen sind manchmal ein bisschen neugierig, und so dauerte es gar nicht lange, da wurden erst einmal die Obst- und Gemüsegärten der Alfelder durchsucht, und wo in den Häusern die Fenster offen standen, wurden auch die Wohnungen von den Affen besucht. Es wäre gar nicht so schlimm gewesen, wenn die Biester nicht auch die Gardinen abgenommen, Spiegel und Porzellan zerschlagen und Esswaren probiert hätten. Zwei oder drei dieser Ausreißer sahen sich unser damals so schönes und romantisches Alfeld von der Kirchturmspitze der nahe der Tierhandlung gelegenen Marienkirche an.
Nach einem Transport aus Südamerika hatte ich einmal große Angst um unseren Vater. Ein ausgewachsener Jaguar hatte sich im Behelfsraubtierhaus aus seinem Käfig befreit, ähnlich wie der Eisbär auf dem Bahnhof. Man stellte einen Fangkäfig mit Futter und Wasser in das Haus, doch der Jaguar ging nicht in die Falle. Guter Rat war teuer, was tun? Die Feuerwehr musste her, aber damals noch mit Handfeuerlöschpumpe. Mein Vater und ein anderer Wärter gingen mit Dressurgabeln und Schlagstöcken in das Raubtierhaus, aber erst als von einem Fenster die Feuerwehrspritze zu Hilfe kam, konnten die Männer den Riesenkater in die Falle treiben.

Obertierwärter Albert Siegfried führt Tiger vor

Elefanten sind groß und stark, können aber ganz leicht erschrecken. Einmal hatten zwei Wärter einen Elefanten durch die Straßen spazieren geführt – und da geschah es! Irgendetwas hatte den Elefanten erschreckt, und ab ging es ohne die Wärter in Richtung Elefantenstall. Dann kam es aber doch anders. Vor dem Eingang zum Friedhof spielten viele Kinder mit Tretrollern und Fahrrädern. Die Kinder sahen den Elefanten und schreien wie wild, aber nicht aus Angst. Der Ausreißer machte kehrt und lief zurück bis zum Schulhof der ,,Roten Schule“. Dort hatte er sich dann wieder beruhigt. Nachdem er den Drahtzaun zur alten Brauerei eingedrückt hatte, ließ er sich wieder ganz brav in seinen Stall zurückbringen.
Ein anderer Elefant wurde auch mal ausgeführt. Das Motorgeräusch eines Flugzeuges hatte ihn dann wohl aus der Fassung gebracht, und ab ging es. Ich glaubte, er wollte unsere Sieben Berge kennen lernen. Auf dem Rehberg genoss er erst einmal die Blätter der Bäume und die jungen Triebe. Mit Pferd und Wagen musste man ihm nachfahren. Er wurde mit einigen Vier-Pfund-Broten beruhigt und friedlich wieder heimgeführt.
Und nun noch eine kleine Affengeschichte: Ich möchte sagen, dass Menschenaffen geradeso liebebedürftig sind wie die Menschenkinder. Sie fühlen sich einsam und verwaist, wenn man sich ihrer nicht annimmt. Am meisten Freude bereitete uns ein Schimpansenkind. Es war in einem Zimmer in der ersten Etage frei untergebracht. Das Fenster war durch ein Drahtgitter geschützt. Unsere Familie wohnte im Obergeschoß. An einem Sonntag beim Mittagessen ging auf einmal die Küchentür auf, und unser Schimpansenkind kam hereinspaziert. Papa hatte vergessen, die Tür vom Schimpansenzimmer zu verschließen. In seiner Schimpansensprache gestikulierend, kroch der Kleine auf den Schoß unseres Vaters; sie unterhielten sich und es gab auch ein Küsschen. „Ja“, sagte der Vater zu unserer Mutter, „dann mach mal einen Teller für unseren Kleinen zurecht!“ Mit dem Löffel essen konnte er schon; so hatten wir einmal ein Schimpansenkind beim Sonntagessen am Tisch zu Gast.
Meine Schulzeit verbrachte ich in der Bürgerschule, die sich damals in der Bismarckstraße befand. Ich wusste immer ganz genau, wann ein neuer Tiertransport erwartet wurde oder wann die Zirkusfamilie Charles Illeneb zum Winterquartier in Alfeld ankam. Den ganzen Morgen passte ich in der Schule nicht richtig auf, sondern horchte auf die Geräusche von der Straße. Wenn ich viele Pferdewagen rumpeln hörte, wusste ich, jetzt sind sie da. Was war da zu tun? Ich hob den Finger und bat, austreten zu dürfen. Mein Lehrer erlaubte es. Ich kam aber nicht wieder, denn der Transport aus Übersee oder die Heimkehr der Familie Illeneb waren mir wichtiger. Übrigens ging der Sohn Charly Illeneb die ersten drei Schuljahre mit in meine Klasse. Er wohnte damals bei meinen Eltern. Charles Illeneb, der Vater, übte in der großen Tierhandlung seine Zirkusnummern ein. Bei diesen Dressuren durfte ich mit meinen Klassenkameraden oft zusehen. Überhaupt besuchten wir Schulkinder oft die Tierhandlung mit den vielen Kamelen, Affen, Raubtieren usw. Darum haben es mir die Lehrer auch nie übel genommen, wenn ich manchmal nicht wiederkam. Vielleicht hielt man mich auch für einen halben Zigeuner.

Ernst Siegfried, aus „Alfelder Geschichten“ Herausgegeben von einer Alfelder Arbeitsgemeinschaft im Jubiläumsjahr 1983