Die Tanzstunde

„Das Leben ist hart.“ Herbert betrachtete seine Hände, es begannen sich einige kleine Blasen zu bilden. Kein Wunder bei dieser Art von Tätigkeit. „Und Rübenkraut mit Quark kann ich auch bald nicht mehr sehen.“

Wir saßen geschützt gegen Regen und Wind in einem kleinen Steinbruch bei Grafelde. Herbert war ein ehemaliger Fliegerkamerad den es ebenfalls in diesen Ort verschlagen hatte. Nach einigen Abenteuern hatten wir uns hier wieder gefunden. Unser letzter Einsatzflughafen war in Höhe von Wrisbergholzen, dem Nachbardorf gewesen. Und dann ging der Luftwaffe der Sprit aus. Die Maschinen wurden mit dem letzten Tropfen irgendwohin überführt. Wir machten uns auf die Socken, beim Endsieg noch dabei zu sein. Es hatte uns über Berlin in den letzten Kriegstagen noch bis
in die Tschechoslowakei geführt. Dann war alles vorbei. Zum Glück konnten wir aus der Gefangenschaft der Russen noch entfliehen. Wir wollten in die Schweiz, Herbert mit seiner Frau die er bei Leipzig getroffen hatte, und ich. Und sollten wir auseinander gerissen werden hinter der Eingangstür des größten Friedhofs jeder Stadt auf der Route gen Bodensee lag dann eine Nachricht.

Es lag keine Nachricht.

Ich war froh in Richtung Niedersachsen ausweichen zu können aber Herbert zog es nach Süden. „Ich guckte hinter jedem Eingangstor der Friedhöfe auf unserem Weg, fand aber keinen Zettel von Dir“, erzählte er später. Im August kam auch er dann in Grafelde an. Als ich grade versuchte mit einem Pflug einigermaßen grade Furchen zu ziehen, sah ich von Almstedt her ein Paar angetrottet kommen mit einem Handwagen: Herbert und seine Frau; „Ich habe Dich überall gesucht, und hier bist Du“, sagte er schlicht zur Begrüßung. Und nun saßen wir im Steinbruch, besahen unsere Hände die Hacke und Schaufel nicht gewohnt waren. „Wie Bagnosträflinge sagte Herbert.

„Wie Männer, die Aussicht haben Schwerstarbeiterzulage zu kassieren“, erwiderte ich. „Und die wollen sie uns jetzt wieder nehmen, „sagte Herbert bitter. Denn der Bürgermeister hatte uns bedeutet: „dafür kann ich keine Zulage geben. Zwar helft ihr die Strasse zum Spritzenhaus mit zubauen, aber für vier kleine Karren am Tage Schwerstarbeiterzulage, geht nicht.“
Wir hatten ihm gesagt, wir könnten auch mehr. Aber für die Transportmöglichkeiten (Herbert sagte Logistik) seien wir nicht zuständig. Schließlich könnten wir nichts daran ändern, das ein Ochse nun mal kein Rennpferd ist und dieser Ochse die Strecke nur viermal täglich zurücklegen kann.

Wir werden ihn heute noch mal fragen, wenn nicht, dann nicht.“ Es hieß weiterhin; nicht. So legten wir dem Bürgermeister Hacke und Schaufel auf denSchreibtisch und zogen uns ins Privatleben zurück, leckten unsere Wunden und überdachten die Lage. Sie war traurig. Immerhin aber waren wir die ersten Männer nach dem Krieg. Dieeinen Streik begonnen haben nach einer Urabstimmung zwischen uns. Einstimmig beschlossen. Nur Streikgeld gab es noch nicht.

Herbert, ein Mann mit philosophischen Neigungen und aus Sachsen meinte“ Man müsste den Leuten Vergnügen bieten, nach den Jahren hinter uns lechzen sie direkt nach Frohsinn und Ausgelassenheit.“ „Und sie würden auch bezahlen“, fügte ich hinzu. Herbert nickte.

„Gründen wir eine Kapelle“, meinte ich. Mein Klavierspiel war seinerzeit nicht schlecht, im Jazz und modernen Schlagern war ich up to date. Nur Herbert beherrschte kein Instrument. „Das kann man lernen“, munterte ich ihn auf. „Zum Beispiel Bassgeige.“ Da brauche man nur ein paar Griffe. „Aber eine Geige müssten wir besorgen“, sagte Herbert. Dieser Gedanke wurde bald aufgegeben, das bringt nicht viel und wer hat schon eine Bassgeige zu Hause rum liegen.
„Oder wir gründen ein Theater und gehen über die Dörfer“, schlug Herbert vor, ich winkte ab.
„Man weiß doch gar nicht was man spielen darf, es ist doch noch alles verboten.“ Es war nichts zu machen, uns fiel nichts ein. Aber es fiel mir ein Buch in die Hände und Glücksgöttin Fortuna gab uns einen Schubs in den Rücken.

Es war im Jahr 1928 verfasst und hieß „Der moderne Tanz“ Ich stürzte zu Herbert, es war schon reichlich spät, „ich hab’s, rief ich durch die Schlafzimmertür, „Wir gründen eine Tanzschule, Deine Frau und Du leiten den Laden, ich mache die Musik“ Er starrte mich an wie einen Geist „Das ist die Idee.“ Und legte sich wieder schlafen.
Damit begann ein denkwürdiges Unternehmen, das heute noch “ hinter dem Berge“ in angenehmer Erinnerung geblieben ist und uns von der Misere der Sträflingsarbeit im Steinbruch befreite. Und so ging es dann weiter. Es wurde eine Tagung anberaumt. „Wir brauchen unbedingt eine Genehmigung, dann Säle und vor allem Tanzschülerinnen und Schüler.“ das war klar. „Und wir benötigen Kenntnisse der modernen Tanzkunst“, sagte ich und holte das Buch hervor. „Zum Beispiel Foxtrott“, las ich vor und ließ die beiden Aufstellung nehmen.
„Und eins und zwei und drei und vier“, gab ich den Takt an. Wenigstens tanzen konnten sie. „Nun lernt den Text“, sagte ich. Es war direkt unheimlich wie sie sich da reinknieten. Machen wir es kurz, die Genehmigung trudelte eines Tages ein „Widerruflich“ stand auf dem Papier, hätten wir die Genehmigung erhalten, einen Anfängerkurs zu veranstalten.
Drei Säle waren dafür in der Umgebung vorgesehen, und die handgeschriebenen Ankündigungen an den Telegrafenmasten hatten einen unerwarteten Erfolg: Die Mädchen und Jungen, die Damen und Herren kamen im wahrsten Sinn des Wortes in Scharen. Sie gaben sich die Türklinken gegenseitig in die Hände und uns ihr Beitrittsgeld in die Kasse. Bevor überhaupt der erste Tanzschritt zelebriert worden war, waren unsere Finanzen saniert. Ade Steinbruch!
Und so ging es von Saal zu Saal, die ganze Sache klappte überraschend gut. Die Jungen und Mädchen lernten Foxtrott und Walzer, Tango und Slowfox, es war eine Pracht. Die Klaviere waren verstimmt, dass es einem jammerte. Aber man konnte wenigstens die Melodien erkennen.

Nur Hunger hatten wir, Herbert, Frau und ich immer. Um dem einwenig abzuhelfen hatten wir zum Abschluss des Kurses den üblichen Ball angekündigt, auch die Eiter sollten kommen. Und die Damen waren gebeten worden, zu Ehren des Tages einen Kuchen, oder noch besser eine Torte zu backen. Die jungen Männer wurden gebeten mal im Keller nachzusehen, ob da nicht noch eine Flasche still vor sich hin staubte.
Sagte ein junger Teilnehmer „Warum eigentlich erst zum Abschluss, können wir nicht einen Zwischenball veranstalten?“ Ich schaute Herbert an „Mann, das ist die Idee“. Doch dazu benötigten wir noch einmal eine Genehmigung. Wir schrieben an das Amt – Ämter gab es noch jede Menge. Unser Amt reagierte prompt. …“müssen wir Sie bitten, vor Erteilung einer Genehmigung sich einer Prüfung zu unterziehen, Ort: Berghölzchen in Hildesheim. Datum dann und dann, 10 Uhr. Punkt – Unterschrift. „Herbert“, sagte ich „das geht in die Hose.“ Er winkte ab. „Erst mal hingehen und sehen.“
Wir gingen hin. Geprüft wurde von einem Ehepaar, das die örtliche Tanzschule leitete, also sozusagen unsere Konkurrenz. „Die wollen uns weghaben vom reich gedeckten Tisch“, befürchtete ich. Die Dame, Mittelalter, scharfe Gesichtszüge, bestimmte Sprache, er, ehemaliger Offizier der Wehrmacht, nunmehr umgesattelt, genau wie wir. Er hatte wenig zu bestellen, sie gab den Ton an. Und sie hatte ihren Kursus mitgebracht. Kläglich muss ich sagen im Vergleich zu unserer prächtigen Gesellschaft.
„Bitte führen Sie mit meinen Damen und Herren eine Quadrille vor.“ Ich erstarrte, Herbert und Frau erstarrten. Eine Quadrille was ist das? Aber ein Sachse lässt sich nicht so schnell ins Bockshorn jagen. „Aber liebe gnädige Frau, so etwas lehrt man heute doch nicht mehr.“ „Heute werden moderne Tänze gewünscht Fox und haben Sie schon mal was von Swing gehört?“ Sie hatte nicht. „Dann tanzen Sie mit der Gruppe bitte langsamen Walzer.“
Herbert holte tief Luft, beorderte die Paare an ihre Plätze. „Wir tanzen Ihnen die Schritte vor“, sagte Herbert Sie taten also und da sah ich, wie das Ehepaar erstaunt die Augen aufriss, sich anschaute, mit den Schultern zuckte, wie ich langsam aber sicher die Mundwinkel nach unten bewegten. Verächtlich.
Da habe ich mich still und heimlich verdrückt und auf meinen Partner vor der Tür gewartet. „Aus.“ sagte Herbert nur, den Fortgeschrittenen Kurs können wir uns abschminken. Oder meinst Du, die würden eine Konkurrenz, also uns, an ihrer mageren Brust großziehen?“
Der Bescheid des Amtes begann mit „leider“ und endete mit dem Rat, vielleicht später, und so.
Die Enttäuschung bei unseren jungen Freunden war groß und unsere auch, denn wir mussten nun die bereits eingezahlten gebühren wieder rausrücken. Ihr Abschiedsgeschenk bestand aus drei großen Sahnetorten.
Was nun aus uns geworden ist? Ich studierte in Aachen Journalismus, Herbert entschloss sich Fabrikant zu werden. Sein Werk richtete er auf einem Bauernhof ein, der Maschinenpark bestand aus zwei ausgedienten Waschkesseln.

Seine Frau nannte sich ab sofort „Frau Direktor“ und trug große Hüte, sie wollte das Finanzwesen der Firma übernehmen .Die Arbeiterschaft bestand aus einem Freund aus dem Dorf. Hergestellt wurden Feueranzünder.
Das Material bestand aus Hobelspänen und Teer, das wurde verrührt und in handliche Pakete gepresst.
Herbert versuchte es an den Mann zu bringen, hier und da gelang das auch, aber nur für kurze Zeit. Denn das Teufelszeug hatte einen Nachteil: Es brannte zwar, das heißt, es kokelte mehr, und dann entschwebten kleine Rußflöckchen in der Stube, legten sich auf Schränke und Tischdecken, Töpfe und Pfannen und waren sehr schwer zu entfernen.
Herbert trug sich mit dem Gedanken nebenher Fleckwasser zu produzieren, um den Fehler seines Hauptprodukts wettzumachen. Er wollte sozusagen ein kombiniertes Produkt herstellen: Erst Schmutz, dann Reinigung- eine großartige Idee. Dann sollte es als Abfallprodukt noch Schuhcreme geben. Seine Pläne gingen nicht ganz auf, auch wenn er für den Transport seiner Fabrikation einen betagten Brennlabor in einer Scheune Entdeckte, ihn fahrbereit machte und damit seine Kundschaft in der Umgebung und in Alfeld belieferte. Aber auch dieser Wagen hatte seine Mucken: Über Wernershöhe kam er selten hinweg, da musste oft genug ein Trecker angefordert werden. Runter ging es besser. Die Fabrik ging dann still und leise in Konkurs. Schuld hatte die Währungsreform. Nun brauchte man rußlose Anzünder und Schuhcreme hatte man auch wieder jede Menge. Frau Direktor trug dann wieder kleinere Hüte.