Der Völkerbund

Vor meinem Vater Hause war eine schöne und schattige Grotte mit einem großen ovalen Steintisch und einer dreiteiligen Bank. Damit von der Straße niemand hineinsehen konnte, war eine dichte Buschpflanzung davor. Es war also wirklich ein lauschiger Platz. In dieser Grotte trafen sich nun an linden Sommerabenden so an die acht bis zehn Familienväter aus der Nachbarschaft, um dort ihren Klön zu halten. Für uns Jungs war das immer ein sehr willkommener Anlass, alles mit anhören zu dürfen. Dazwischen sprechen durften wir allerdings nicht, wenn wir nicht einen energischen „Zurechtweis“ oder eine Ohrfeige riskieren wollten. Wir hatten absolut den Schnabel zu halten.
Zwei Herren davon hatten eine lange Pfeife, die bis zur Erde reichte. Wenn wir wussten, dass die Klönrunde tagen wollte, machten wir uns schon eine Anzahl Fidibusse, damit wir den beiden Tabaksverehrern ihre Pfeifen anzünden konnten, weil sie nicht imstande waren, so tief hinunterzulangen. Zwischendurch wurde die Zigarre oder Pfeife angezündet und manchmal war eine Rauchentwicklung, als wenn ein kleiner Bauer Brot bäckt.
Worüber wurde da nun geklönt? Zunächst kam natürlich das Wetter in allen Lagen zur Sprache. Ein unerschöpfliches Thema! Dann die häuslichen Belange:
Also, zu Haus ist alles Gott sei Dank gesund. Die Kinder könnten ja noch etwas artiger sein und nicht solch einen Lärm auf der Straße machen, aber in der Schule geht es zur Zufriedenheit weiter.

Jeder wusste etwas.

So etwa, dass die Frau Meier ohne Schürze herumgelaufen war und die älteste Tochter ein ganz hoffärtiges Kleid getragen hätte. Und auf einem Tanzfest hätte sich Fräulein Kattentit ganz besonders weit vorgewagt. Man fand ihr Kleid ausgesprochen schamlos, aber sechs Wochen später war sie verlobt. Der Bösehans ihre Hühner wollten gar nicht richtig legen, und Gustav Piepenbrink waren zwei Kaninchen eingegangen. Bei Winkelvoss wird schon wieder ein Kind erwartet, und August Meier sein Schwein soll gar nicht recht zunehmen. Die Müllersche verreist häufiger als erforderlich und Frau Mögebier hatte schon wieder einen neuen Hut in der Kirche. Und Frau Hüftenreiz hat bei Ida Rapsch ein neues Kleid in Auftrag gegeben! So eine Verschwendung!!
Also, ein jeder hatte einen Beitrag zum Klön. Es waren keine weltbewegenden Nachrichten, aber für eine kleine Stadt, in der fast ein jeder den anderen kannte, immerhin nicht unbedeutend.
Wenn nun dieses alles durchgehechelt war und die vielen lieben Mitmenschen nicht ungeschoren geblieben waren, so kam dann das wichtigste Thema an die Reihe. Das war der Lokalpatriotismus in Form und Gestalt der Stadtverwaltung. Was die da oben machten und fertig brachten, war alles Blödsinn. Die müssen doch einen Vogel haben, solche blöden Verordnungen zu verfassen. Also, was die da an den Tag brachten und beschlossen, war alles dummes Zeug. Die Bürgervorsteher (heute heißen sie Ratsherren) sollten da mal energischer auftreten, dass der Bürgermeister nicht machen kann, was er will.
Es wird ohnehin Zeit, dass da mal ein Stöckchen beigesteckt wird. Die Steuern sollen auch schon wieder höher werden und die Hundesteuer beträgt jetzt wieder zwei Mark mehr. Na ja, wir haben ja keinen Hund, denn das Bellen machen wir immer noch allein.
So gingen die Reden hin und her, und manchmal stieg bei diesen Diskussionen auch die Temperatur nicht unbeträchtlich, sie bekam sogar verschiedentlich einen Hitzegrad, der den besorgniserregenden Höchststand erreichte.
Was die da oben beschlossen, war alles dummes Zeug. Diese acht bis zehn Persönchen aus der Nachbarschaft konnten das alles viel besser. Die trafen den Nagel immer genau auf den Kopf und vor allem, sie machten es einem jeden recht. Wenn diese zehn Mann an die Regierung gekommen wären, hätte wahrscheinlich ein paradiesischer Zustand in Alfeld seinen Einzug gehalten.
Aber, wie es auch sei, ein jedes Thema hat mal ein Ende, und wenn sich alle genügend ausgekollert und nun im Vollbewußtsein ihrer Unfehlbarkeit sich eine neue Zigarre oder Pfeife angezündet hatten, kam eine ganz andere Sache auf den Tisch, und das war wohl das interessanteste Thema. Da konnte jeder nach Belieben auch ein bisschen übertreiben. Das war ihre Dienstzeit bei den Soldaten. Das Schlechte vergisst man, nur die Streiche und Wippchen bleiben für immer haften.
Im Verschönerungsspiegel der Erinnerung sieht ja alles ganz anders aus, als es gewesen ist. Da jeder bei einem anderen Truppenteil gedient hatte, konnte auch genügend dazugeschwindelt werden. Wenn die Sprache auf den Krieg kam, dann wurden die alten Herren munter. Es wurden Heldentaten serviert, die nun tatsächlich nicht wahr sein konnten. Das wussten auch alle, aber es muss nun einmal zugegeben werden, es hörte sich unheimlich schön an, wenn auch nur die Hälfte wahr sein konnte. Und da keiner dem anderen nachstehen wollte, so wurden Schilderungen gebracht, dass uns Jungs eine Gänsehaut überlief. Es war enorm, was die Väter da alles erlebt und überlebt hatten. Der Freiherr Hieronymus von Münchhausen hätte hier bei den Herren noch in die Lehre gehen können. Das Interessanteste an der ganzen Sache aber war der Umstand, dass ein jeder wusste, dass da übertrieben wurde. Keiner nahm es dem anderen Vaterlandsverteidiger übel, und wenn er dann etwas zum Besten gab, so schwindelte er auch noch ein Ende dazu.
Es war also höchst interessant, und wir Jungs hätten da noch stundenlang zuhören können, wenn die Zeit nicht vorgerückt wäre. So bei 9 bis höchstens 9.30 Uhr abends gingen die Herren auseinander, und jeder schob nach Haus und in die Klappe, denn am anderen Morgen läutete der Wecker schon um 5 Uhr. Die Arbeit begann für alle um 6 Uhr.
Diese Sitzungen haben sich viele, viele Male wiederholt, und wir Jungs waren immer begierig darauf, hier zuhören zu dürfen. Damals hieß es die Klönrunde. Als wir selbst schon die Lehre hinter uns gelassen hatten und ins Leben eingetreten waren, haben wir die Klönrunde in Erinnerung an viele erlebnisreiche Stunden auf den Namen „Der Völkerbund“ getauft. Es waren unvergessliche Stunden, die wir dort erlebt haben, aber von den Vätern der „Klönrunde“ lebt keiner mehr, sie ruhen alle auf dem Gottesacker.

Die Erinnerung aber bleibt, und ein bisschen Wehmut begleitet sie.

Quelle: Hans Röttger aus Alfelder Geschichten, 1983