Der Brudermörderstein

Der Brudermörderstein

Diese Geschichte erzählte uns unser Vater, als wir noch Kinder waren und zur Schule gingen. Es war ein Abend, so recht angetan zum Erzählen. Wir waren so an die zehn Jungen, hatten uns rund um den Vater auf die Erde gesetzt und hörten aufmerksam zu. Wir waren in dem Warmhaus der Gärtnerei; hier mussten immer 28 Grad über Null sein, also eine behagliche Wärme. Unser Vater hatte dort einen Sessel zu seiner besseren Sitzmöglichkeit. Das Gewächshaus war mit Strohmatten zugedeckt, um die Wärme besser halten zu können. Im Dachfirst waren so etwa 50 bis 70 cm Glas noch frei, und der Vollmond schaute durch die unbedeckten Scheiben, wobei er das Innere des Hauses in ein fahles, weißliches, gedämpftes Licht hüllte.
Unser Vater hatte ein ausgesprochenes Erzähltalent und konnte so lebhaft schildern, dass wir alle Vorfälle plastisch vor uns sahen. Das Dämmerlicht wirkte dann ohnehin noch auf unsere Phantasie, so dass ein solcher Abend immer ein großes Erlebnis war.

Und so erzählte er:

Zwischen den Dörfern Föhrste und Imsen auf der Höhe des Nattenberges steht ein Gedenkstein. Dieser Stein ist zur Erinnerung an ein furchtbares Geschehen aufgestellt worden und so gesetzt, dass er von dem Anwesen, wegen dessen die Untat ausgeführt wurde, gesehen werden kann.
In Imsen auf dem Hofe Kirk lebten vor nicht ganz 200 Jahren zwei Brüder. Nach dem geltenden Höferecht war der ältere Bruder der Erbe, während der jüngere abzufinden war. Nun musste aber der ältere Bruder Soldat werden und mit dem Napoleon-Heer nach Russland ziehen. Der Daheimgebliebene sah jetzt die Möglichkeit gegeben, auf dem Hof zu bleiben und diesen als Eigentümer zu übernehmen. Dem Jüngeren wurde der Hof auch überschrieben unter der Bedingung, dass bei Rückkehr seines älteren Bruders dieser in seine alten Rechte wieder eintreten würde.
Der jüngere Bruder hatte also den Hof übernommen, geheiratet und im Stillen gehofft, dass der eigentliche Erbe aus dem Russlandfeldzug nicht wieder heimkehren würde. Aber wie in aller Welt: Hoffetod hat keine Not! Was nämlich niemand mehr für möglich gehalten hatte, trat ein. Man erfuhr, dass der Verschollene trotz aller Fährnisse dieses Feldzuges zurückgekehrt und bereits von Alfeld aus auf dem Wege nach Imsen sei. Grau war das Gesicht des jüngeren Bruders bei dieser Nachricht geworden, und ein höllischer Plan reifte in seinem Herzen. Schnell beredete er sich mit seinem Tagelöhner Buhmann. Beide wurden sich einig, dem Ankömmling entgegenzugehen und ihn hinterrücks zu beseitigen. Kirk und sein Tagelöhner gingen also los und legten sich hinter einem Hagebuttenbusch auf die Lauer. Richtig! Der Rückkehrer kam von Föhrste in der Dunkelheit gleich über den Berg und nahm den Richteweg. Nichts ahnend ging er dem Dorfe entgegen und malte sich unterwegs aus, wie wohl sein Empfang sein würde. Da wurde er plötzlich von zwei Männern angefallen. Er wehrte sich zwar, erkannte sie auch und rief Buhmann zu: „Buhmann, so helpe meck doch!“ „Ja, eck will deck all helpen“, erhielt er zur Antwort, und sein jüngerer Bruder erschlug ihn. Noch in der gleichen Nacht vergruben die beiden den Toten.

Am anderen Tag wunderten sich die Bauern darüber, dass Kirk seinen Klee einpflügte. Er bemerkte dabei, dass der Klee nichts tauge. Es verging eine Weile, und die Nachricht von der Rückkehr des eigentlichen Hoferben bewahrheitete sich nicht. Auf diesbezügliche Fragen an den Jüngeren gab dieser ausweichende Antworten.

Eines Tages aber kam der Stein ins Rollen. Arbeitende Bauern hatten ihre Hunde mit aufs Feld genommen. Durch das unruhige und merkwürdige Verhalten dieser Tiere aufmerksam geworden, gingen die Bauern zu ihnen hin und sahen zu ihrem Entsetzen eine Hand aus der Erde hervorragen. Die Hunde hatten die Stelle gefunden, wo Kirk und Buhmann den Toten verscharrt hatten.
Der Verdacht fiel sofort auf Kirk. In einem hochnotpeinlichen Verhör und unter Anwendung von Folter gestand Kirk den ganzen Vorfall. Er und sein Helfer wurden vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt.

Am Tage der Hinrichtung mussten die älteren Schulknaben von Warzen, Gerzen, Imsen, Hörsum und Everode zugegen sein. Das sollte abschreckend wirken und vor solchen Taten warnen. Die Richtstätte lag dort, wo heute zwischen Winzenburg und Westerberg die Forellenteiche sind. Dort stand auch der Galgen. Auf einer Kuhhaut sitzend und gefesselt wurden Kirk und Buhmann dorthin gezogen. Kinder und auch Erwachsene eilten in hellen Scharen neben den Verurteilten her. Diese riefen ihnen zu: ,,lhr braucht gar nicht so zu laufen, bevor wir nicht dort sind, geht es nicht los!“
Die Mörder wurden dann hingerichtet, und die anschließend auf ein Rad geflochtenen Leichname den Raben dargeboten.
Es war übrigens die letzte Hinrichtung im Amt Winzenburg; sie fand am 30. Mai 1817 statt. Wo eine spätere Beisetzung der Gebeine der Verurteilten vorgenommen wurde, ist nicht bekannt.
Das also ist die Geschichte des Brudermördersteines, der noch heute dort steht als ewiges Mahnmal.

Wir Jungen hatten atemlos zugehört; uns schlotterten die Knie. Nur zaghaft konnten wir über den schwach beleuchteten Hof und durch die dunklen Gassen nach Hause gehen.

Quelle: Hans Röttger und Hans Renders aus Alfelder Geschichten, 1983