Meine Erinnerungen sind Bilder, die im Kopf hängengeblieben sind, so wie sie eben ein zehnjähriges Kind speichert. Als Zeitzeuge bin ich nicht geeignet, weil ich damals noch zu jung war.
Als kuschelig und angenehm empfand ich das Verbarrikadieren im Keller in der „Adolf-Hitler-Straße 18“ (heute wieder: Bahnhofstraße – also gegenüber der Post, Bahnhof). Hautnah hockten, schliefen, warteten, sangen, erzählten wir mit den Bewohnern dieses Hauses dort zusammen, in Decken gemummelt, halb dunkel, schummrig.
Wie lange das ging, weiß ich nicht mehr. Meine Oma war immer dabei, sie roch schwarz, warm und trocken. Die Moldenhauers und Opa Temme sehe ich da noch. Manchmal ging jemand hinauf, um zu gucken, ob die Soldaten schon kamen. Und dann – es war mittags – sehr sonnig – fuhren dunkelgrüne „Kampfwagen“ mit vielen dunkelgrün gekleideten Soldaten in Stahlhelmen, vom Bahnhof kommend, in Richtung Leinebrücke. Alle hatten ein Gewehr. Sie hielten, sprangen vom Wagen ab und liefen nach allen Seiten in die Häuser. Uns holten sie aus dem Keller in die Wohnung, gingen überall durch und guckten. Ich zitterte etwas an der Hand meiner Mutter.
Dann waren sie wieder weg. Die Fenster durften wir nicht öffnen. Hinter der Gardine stehend, sehe ich noch auf dem Bürgersteig vor der Post, wie Hakenkreuzfahnen in Brand gesteckt wurden. Die Soldaten fuchtelten mit den brennenden Fahnen durch die Luft. Meine Mutter bedauerte das Verbrennen, sie hätte uns daraus rote Röcke und Kleider nähen können.
Dann sehe ich – ebenfalls durch die Gardine – wie mein Vater und ein Nachbar, Herr Gäde (Förster), ihre Jagd- und Luftgewehre zur Leinebrücke brachten. Die Soldaten schlugen die Gewehre auf dem Brückengeländer kaputt und schmissen sie in die Leine. Auch die Fotoapparate gab mein Vater dort ab, die wurden nicht weggeworfen. An der Stelle, vor der Brücke, stand damals ein Kiosk. Vor unserer Haustür lungerten wir dann später herum und bekamen von „Negern“ Kaugummi und Minipäckchen Nescafé.
Das war’s dann auch schon. Ich meine mich zu erinnern, dass auf der Wiese hinter unserem Haus Flugzeuge landeten – bin aber nicht sicher. Wahrscheinlich einige Tage vor dem letzten „Kriegstag“ für uns – diese Besatzung kam ja vor dem offiziellen Kriegsende – wurden, vom Bahnhof kommend, also Göttinger oder Hannoversche Straße Richtung Innenstadt viele, viele Männer (das ist wieder die Kindvorstellung) in abgerissener Kleidung – vielleicht auch verschlissene Uniformen – an unserem Haus vorbeigeführt. Ich sah keinen Anfang und kein Ende dieses Trecks. Die Männer sahen müde, traurig, ängstlich und leidend aus. Ich stand auf der Kolkbrücke. Plötzlich wurden dort zwei oder drei dieser Männer vor mir erschossen. Sie fielen die Böschung hinunter. Damals war da noch eine Böschung. Wohl bin ich weggelaufen, ich weiß es nicht mehr.
Erst vor ca. 10 Jahren fand ich auf unserem Friedhof ein Gräberfeld mit kleinen Steinen liegend; auf einigen stand: unbekannt – und ein Datum von 1945
Brief von Käthe Cordes, 27. März 1995