Mutter Hage aus Kamerun

Sie war eines unserer originellsten stadtbekannten Lebewesen. Der Volksmund hatte diesen Teil der Hannoverschen Straße, wo die Familie Hage wohnte, nach unserer ehemaligen afrikanischen Kolonie „Kamerun“ getauft, wohl wegen der Entfernung von der Stadt und weil das Leben und Treiben hier den meisten Alfeldern völlig unbekannt war. Die vielen Kinder der dort ansässigen Familien konnten sich reichlich austoben auf den gegenüberliegenden Wiesen, wo sich heute ein geschlossenes Gewerbegebiet befindet.

Mutter Hage hatte mit ihren vielen Kindern ein hartes Leben hinter sich. In der Zeit der großen Arbeitslosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg fand auch ihr Mann lange Jahre keine Beschäftigung, die ältesten Söhne mussten mithelfen, die Familie zu ernähren. Doch gab es bei ihnen keine Krankheiten, im Gegenteil, alle waren munter und gut gelaunt, und wenn ihnen jemand ins Gehege kam, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel.

Mutter Hage war groß, trug meist dunkle Kleidung und hatte ein ernstes, vom harten Leben geprägtes Gesicht, das von schlohweißem, glatt gescheiteltem Haar umrahmt wurde. Mit dem schwarzen Krückstock in der Hand, den sie beim Gehen kräftig aufstieß, wirkte sie auf uns Kinder sehr respek teinflößend. Schief ansehen durfte man sie nicht oder sich gar über sie amüsieren, das ließ sie sich nicht gefallen.

Jeden Dienstag und Freitag ging sie mit ihren größeren Kindern ins Kino auf der Holzer Straße. Kino-Fricke wusste schon Bescheid, wenn sie beim Passieren der Kasse kurz bemerkte: ,,Herr Fricke, eck betale freidags“, dann waren die Zahltage für Lohn, Arbeitslosenunterstützung usw. Die unterste Sitzreihe im Kino gehörte der Familie Hage, hier ließen sie sich häuslich nieder, packten ihre Essenstöpfe und ihr Brot aus, schmausten recht geräuschvoll und erfreuten sich der Filme, wobei sie je nach eigenem Erleben mit Anmerkungen nicht sparten. Ich saß einmal hinter ihnen und konnte mir das Gnickern nicht verkneifen. Da drehte sich Frau Hage kurz um und sagte nur: ,,Eck kumm riut.“Diese Drohung hatte auf mich die Wirkung, dass ich einige Minuten vor Schluss eiligst das Kino verließ. Man konnte bei Mutter Hage nicht wissen, was sie tat, wenn sie gekränkt war.
Eines Tages hatte Mutter Hage etwas in Hannover zu erledigen und bei ihren Kindern hinterlassen, dass sie rechtzeitig zum Bereiten des Mittagessens wieder zurück sei. In Hannover stieg sie jedoch in einen D-Zug in Richtung Göttingen, der nicht in Alfeld hielt; es war zu spät, als sie vom Kontrolleur hierauf aufmerksam gemacht worden war.
Nun wollte es der Zufall, dass der Zug vor Alfeld keine Einfahrt hatte und in Höhe Kameruns, wo ihre Kinder spielten, ganz langsam fuhr. Geistesgegenwärtig riss sie schnell ein Abteilfenster auf und rief ihrem ältesten Sohn mit lauter Stimme die in Alfeld als klassisch geltenden Worte zu: „Harry, sett die Krüllders up, eck schnarzele dur!“ (Heinrich, setz die Kartoffeln auf, ich fahre durch!)

Als Mutter Hage gestorben war, haben viele von uns sie sehr vermisst, sie fehlte im Stadtbild, aber besonders im Kino.

Quelle: Otto Granzow aus Alfelder Geschichten, 1983