Musterung im Nebenzimmer

Die beiden Brüder waren Inhaber eines der ältesten Geschäfte der Stadt und galten bei Geschäftsfreunden und Konkurrenten als „königliche Kaufleute,“ bei denen das Wort und der Handschlag genau so viel bedeuteten wie eine beglaubigte Auftragsbestätigung oder ein versiegelter Vertrag.

August und Willi galten daneben als Lebenskünstler, den guten Seiten des Daseins zu gewand und auch, bedingt durch ihren und der Vorfahren gesammelten Wohlstand in der Lage, sie auszukosten und eventuelle Rückschläge auf diesem Gebiet mit Würde.

Geschäftliche Differenzen wurden auf regelmäßigen Besuchen in der nahen und weiteren Umgebung der Stadt bis hin zu den lieblichen Ufern des Rheins bereinigt. Auf diesen Reisen würden neue Abschlüsse getätigt und Freundschaften geschlossen; denn Willi und August, von großer und stattlicher, Vertrauens erweckender Statur, waren, wie man heute sagen würde, sehr kontaktfreudig. Die Folgen dieser Kontakte bemerkten die geleimten“ aber meist erst sehr viel später.

Über die Grenzen des Vaterlandes waren die beiden, die als Hobby das Waidwerk ausübten, nicht hinausgekommen. Sie waren wie es in dem schönen Niedersachsenlied heißt „erdverwachsen“ was sie aber nicht daran hinderte, oder vielleicht sogar ermunterte, die tollsten Reiseberichte von sich zu geben. Es bedurfte nur eines Stichwortes, und Willi und August, beide von schneller Auffassungsgabe und regem Geiste, legten los. So, wenn in guter Runde ein Fremder zu fragen wagte: „Haben Sie meine Herren, schon mal einen Elefanten geschossen?“ Das genügte um Willi indigniert die Augenbraue hochziehen zu

lassen und gegen zufragen:“ Einen?“ Er habe einmal als Expeditionsleiter, ohne dem ging es bei Willi nicht, wochenlang dafür Sorge tragen müssen, dass seine Leute nicht verhungerten. Es sei das nur durch Erlegen von Elefanten möglich gewesen, von deren Fleisch man sich ernährte, da der Nachschub an Nahrungsmitteln ausgeblieben war. Basses Erstaunen in der Runde. „Ja, und wenn dann so ein Bursche nach einem Blattschuss hinkippte, dann bebten die Kralsder Schwarzen in der näheren und weiteren Umgebung, „ schloss Willi und leerte sein Glas mit einem „Waidmannsheil.“
Sie hatten auch was gegen das Militärische, brauchten nicht Soldat zu werden, weder in diesem noch in jenem Reich wobei sie eine ausgesprochenen Antipathie gegen „jenes“ hatten so dass ihnen denn auch der Übergang von diesem zu jenem keinerlei Schwierigkeiten bereitete. Und wie viele Mitmenschen, die über die Dinge am meisten reden, von denen sie keine Ahnung oder persönliche Erfahrung haben, nahmen sie sich des Militärischen hie und da an und flochten es in ihre Geschichten ein. Mit der folgenden Geschichte erzielten sie allerhöchste Achtung und größten Beifall. Wobei sich die Stammtischbrüder darin einig waren, dass der Wahrheitsgehalt nicht zu überprüfen, das Spektrum der Fantasie aber einer Verneigung wert sei.

Und sie verneigten sich denn auch am Ende des Berichts mit donnerndem Beifall. Hier ist sie:

Der Geschäftsreise war auch dieses Mal wieder ein voller Erfolg beschieden: die Auftragsbücher waren gefüllt, der Verdienst wird sich sehen lassen können, August und Willi hatten sich und dem Hause neue Freunde gewonnen und waren von den alten mit Herzlichkeit aufgenommen worden. Aber irgend was fehlte noch zum Erfolg, sozusagen das Salz in der Suppe, eine Geschichte mit Pfiff, eine Begegnung über die man sinnieren und über die man berichten konnte.
Gemach, das Ereignis nahte am letzten Abend. Man gönnte sich als Belohnung für den geschäftlichen Erfolg ein opulentes Mal in einem vornehmen Restaurant von ausgezeichnetem Ruf. Das Essen war denn auch danach, der Wein von nebenan der Mosel ohne Tadel, die Atmosphäre angenehm. Willi und August saßen zurückgelehnt und verdauten. Und warteten.
Bis_ Willi die linke Augenbraue: hob, was für August hieß „es geht los.“ Willi setzte sich aufrecht, hob sein Weinglas an den dritten Knopf seiner Weste, schlug dezent die Hacken seiner Schuhe zusammen, verbeugte sich leicht und sagte laut und vernehmlich:“ Ich trinke dieses Glas auf Ihr Wohl Herr Oberstabsarzt, und auf den guten Abschluss der diesjährigen Musterung.“ Schluck, Verbeugung, kaum hörbares Klacken der Hacken, Glas absetzen.
August tat keine Sekunde verlegen oder überrascht, „Es war eine ausgezeichnete Zusammenarbeit Herr Oberst, wie in all den Jahren.“ Dritter Knopf, leichtes Klacken der Hacken, Schluck, absetzen.
Was sollte das alles? Nun, Willi hatte an einem der Nebentische ein Gästepaar entdeckt. Der Ältere, offensichtlich der Vater, hatte schon des Öfteren und wie er meinte unauffällig zum Tisch von Willi und August geblinzelt. Und Willi hatte vernommen, wie er seinem Nachbarn, vermutlich der Sohn, in regelmäßigen Abständen ermahnte: „Sitz gerade Adalbert, sonst wirst Du nie Soldat.“ Worauf sich der Jüngere einen Ruch gab und sich aufrichtete. Was aber nicht von langer Dauer war, dann sackte er wieder zusammen. Es war man auch nur eine „halbe Portion“, ganz anders als der Vater, der immer wieder kopfschüttelnd seinen Filius betrachtete.
Am Nebentisch rief Willi den Ober: „Bitte noch eine Flasche von diesem ausgezeichneten Wein.“ Die Flasche kam, der Herr Oberstabsarzt und der Oberst tranken sich zu, erzählten vom Soldat sein, von der Kaserne, vom Kasinoleben, von den Rekruten. August hatte immer noch nichts kapiert. Bis dann plötzlich der Herr vom Nebentisch erschien, sich verbeugte und Stammelte „Ich bitte vielmals um Vergebung und die Störung zu entschuldigen, aber ich hörte, dass die Herren Militärs sind und das gibt mir den Mut, mich und meinen Sohn vorzustellen und wenn Sie gütigst erlauben, eine Bitte vorzutragen.“
Vorstellung, exakte Verbeugung – nur bei dem Sohn haperte es damit, er beugte sich mit einem leichten Kopfnicken – Stühlerücken und die Runde hatte sich erweitert.

Es stellte sich heraus, der Tischnachbar war Besitzer einer größeren und bekannten Maschinenfabrik der rheinischen Stadt. „Und ich darf wohl mit Stolz sagen, auch Oberleutnant der Reserve.“ Setzte er hinzu. Solange er zurückdenken könne, habe man in der Familie seines Namens immer Volk und Vaterland gedient. „Und nun das Pech“, klagte er sein Leid, sein Sohn sei bei der Musterung durchgefallen. „Plattfüße und etwas am Rückgrat haben die Ärzte gesagt, Untauglich“. Das hatte den Vater schwer erschüttert. Da sei ihm der Gedanke gekommen, als er die Herren am Nebentisch gehört und beobachtet hatte, sie vielleicht um Rat zu fragen.“ „Bei Ihren Beziehungen zum Militär“, sagte er und er würde alles dafür geben, wenn sein Sohn … koste es was es wolle
Nun hatte auch August kapiert.

„Ja, „sagte Willi und rieb sein Doppelkinn „das fällt ja nun in Ihr Ressort Herr Oberstabsarzt.“ August nickte bedächtig. „Tscha, das wohl aber die Musterung ist ja nun abgeschlossen. Er schien zu überlegen und sah den jungen Mann mit dem Blick eines Musterungsarztes von oben bis unten an. „Mmh, Mmh, ich könnte ja mal…“ Dann rief er den Ober. „Haben Sie ein Nebenzimmer? Geheizt natürlich.“ Der Ober bejahte die Frage. Ob man den auch verschließen könne. Auch das wurde bejaht. „Dann sind Sie so nett und bringen in den Raum ein Handtuch und eine Schüssel mit warmem Wasser.“ Der Ober ließ sich seine Überraschung nicht anmerken und verschwand. Auch August, kurz darauf mit seinem jungen „Patienten.“ Er soll ihn in dem Raum von oben bis unten untersucht haben. Seine Aufmerksamkeit galt dem Pulsschlag und den Herztönen, der Lunge, die er mit dem Knöchel fachmännisch abklopfte, die unteren Körperpartien und vor allem den Füßen. Der junge Mann musste sich abwechselnd mit dem linken und dann mit dem rechten Fuß in die Schüssel mit Wasser stellen und dann auf den Boden, um den Fußabdruck zu prüfen. Wie „Oberstabsarzt “ August berichtete, seien die Abdrücke platt gewesen wie…“ Na ja. Dann gingen sie zurück an den Tisch wo zwei Männer ganz gespannt warteten: Willi, um zu sehen wie sich sein Bruder aus der Affäre gezogen hatte, und der Fabrikant, wie es seinem Sohn ergangen war. „Ja, räusperte sich August, „ja das ist nicht so einfach, so groß sind die körperlichen Mängel nun auch wieder nicht um ihn ganz abzuweisen.“ Der Vater strahlte wie ein Weihnachtsbaum. „Die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen, Herr Oberst, Sie sind der Kommandeur.“ Nun hatte Willi das Blatt. „Ich mache folgenden Vorschlag: Der junge Mann erscheint was haben wir heute, Freitag? am kommenden Dienstag in der Kaserne der 79er und meldet sich bei mir. Sie haben dann die Güte, Herr Oberstabsarzt, ihn noch einmal auf Herz und Leber zu untersuchen. Wir wollen doch dem Vater helfen, wo wir helfen können, und auf einen kommt es dann auch nicht mehr an.“ Der Vater strahlte, der Junge nicht. Er wurde nach Haus geschickt um der Mutter zu berichten. Die Herren aber saßen bis weit nach Mitternacht zusammen.
Herr Oberst hier, Herr Oberstabsarzt da und Herr Oberleutnant der Reserve dort.

Schampus wurde bestellt und mit herzlichen Worten ging man schließlich auseinander. „Wir sehen uns wieder“, versprach der Vater, „wenn das klappt, gibt es ein großes Fest.“ Und er wankte hinaus. Die Brüder aber hielten sich fest und unterdrückten alle Gefühle die auszubrechen drohten. Dann ließen sie sich die Rechnung geben. „Ist alles von dem Herrn bezahlt.“ Sagte der Ober und strich ein erhebliches Trinkgeld ein.

August und Willi verließen am nächsten Morgen die Stadt. Die Gegend und den Ort der Handlung aber mieden sie in den nächsten Jahren wie der Teufel das Weihwasser. Die Geschichte endet eigentlich unbefriedigend, schließlich möchte man gerne wissen, was nun weiter geschah als der junge Mann in der Kaserne erschien und nach dem Oberst mit dem adeligen Namen fragte.

Nun, auch der Fantasie des Lesers muss einiges überlassen werden…