Hein und sein Anker

Wie Gewürze an der Suppe, so gehören Witze zum Stammtisch.

Aber man sollte es sowohl bei der Suppe als auch am Stammtisch mit den alten Griechen halten: Das rechte Maß ist wichtig. Ja, es gibt Leute, die der Meinung sind, der IQ der stamm Tischmitglieder stehe im reziproken Verhältnis zur Zahl der an einem Abend erzählten Witze. Will heißen auf gut deutsch:

Je weniger Witze, desto höher ist die Intelligenz anzusetzen, denn sie benötige keine Witze zur Unterhaltung. Ist natürlich auch übertrieben; denn wenn dem so sei, dann war die Höhe des Quotienten bei diesem Stammtisch kaum noch messbar. Denn er verfügte über nur einen Witz. Und er wurde immer und immer wieder erzählt. Vom Herrn Präsidenten.
Er musste erzählt werden. Wie das?

Meist begann es ganz harmlos.“ Ich habe gehört“, so wirft ein Stammtischbruder so ganz nebenbei ins Gespräch, „dass der Herr Präsident bei der letzten Zusammenkunft einen tollen Witz erzählt hat.“ Der Präsident winkte ab, „Nicht schon wieder“, sagte er „den Witz kennt doch schon jeder.“
„Ist das der, wo ein Kapitän seinen Matrosen mit einer Kette erschlagen hat?“ fragte ein anderer harmlos. “ Der ist verrückt“, sagte sein Gegenüber zu dem Nachbarn. Und erhebt sich: „Herr Präsident, hier will einer den Witz versaubeuteln. Das geht zu weit.“

Allgemeine Unruhe am Tisch. Ein weiterer Bruder erhebt sich „Mein Nachbar und ich stellen den Antrag, den Witz von dem Kapitän noch einmal zu erzählen, derweil wir die Pointe nicht begriffen haben. Oder vergessen haben, kurzum, wir kommen nicht mehr drauf.“

„Nein, nein, das ertrage ich nicht mehr“ der Doktor der Medizin erhebt sich, „ ich protestiere, ich will den Witz nicht mehr hören, ich kann nicht mehr.“
Alles natürlich Mache um weiteren Zwist zu streuen. Und kurz bevor ein Teil der Stammtischbrüder auszuziehen droht, sagt der Präsident beruhigend: „Nun gut, wenn es denn sein muss, um des lieben Friedens Willen.“

Und zum x-ten Male erzählt er den Witz von dem Kapitän der seinem Matrosen den Befehl gibt: „Hein, lass den Anker fallen.“ „Oder willst Du Subordination treiben?“ Hein fragt dann was das wohl sei, Subordination. Der Kapitän erklärt es ihm da lässt Hein den Anker fallen. Die Pointe ist, an dem Anker war gar keine Kette dran.
Und alles achtet in diesem Moment auf den Daumen des Juristen der bislang hoch gestanden hat und bei dem Stichwort „Kette“ gesenkt wird. Darob erhebt sich jedes Mal ein homerisches Gelächter in der Runde, ein Brüllen und Getöse, ein Hämmern auf den Oberschenkel des Nachbarn und die Tischplatte, dass es nur so dröhnte.

„Großartig, gekonnt, fabelhaft“, so lauteten immer wieder die Worte der Anerkennung für die Erzählkunst des Präsidenten. Als habe man den Witz zum ersten Mal gehört.

An jenem besagten Abend passierte nun Unglaubliches. Es war so üblich, dass von Reisen, ob geschäftlicher oder privater Natur, in dem Kreis kurz berichtet wurde. Dieses Mal hatte ein Stammtischbruder einige Tage an der See verbracht, und viel Muße gehabt sich was auszudenken. „Nun stellt Euch vor“, berichtete er, „da traf ich einen alten Seemann, der erzählte mir den Witz vom Kapitän und seinem Matrosen Fietje. Den unser Präsident schon erzählt hat“ „Hein heißt der Matrose“, rief einer dazwischen. „Ist ja auch egal. Aber das Tollste: Der Seemann erzählte die Geschichte mit einer Zigarre im Mundwinkel. Da staunt ihr was? Das können wir hier nicht. Wie das klingt, so richtig sonor und spannend, weil man ja die Vokale nicht deutlich aussprechen kann. Es war eine tolle Leistung. Schade. Stille rundum. „Was heißt hier: ‚können wir nicht‘?“ Die Frage fiel von der Kontraseite. Wie immer in solchen Fällen. „Willst Du damit sagen, unser Präsident wäre nicht fähig oder in der Lage mit Zigarre …“ Er sah sein Gegenüber drohend an. „Nein, nein, es war nur sehr beeindruckend.“ Alles starrte nun den Präsidenten an. Der Jurist mit dem Daumen erhob sich: „Wollen wir uns von einem alten Seemann beschämen lassen? Mitnichten. Ich bitte daher den Präsidenten…“ „Auf keinen Fall“, unterbrach dieser, „das kann ich nicht.“ „Ich bin Nichtraucher.“
„Herr Präsident, Sie brauchen doch nicht richtig zu rauchen, nur die Zigarre in einem Mundwinkel zu halten.“ „Bravo, bravo“, erscholl es in der Runde. Der Präsident war überredet. „Herr Ober, bitte eine Zigarre, die größte im Lokal und auch gleich die Spitze präparieren“.

Die Zigarre wurde auf einem Silbertablett gereicht und gleich angezündet. Der Präsident steckte sie in den Mundwinkel. „Ziehen“, rief die Runde. Der Präsident hustete. Dann hub er an. Es klang wirklich erschütternd. Aus „Kaptain“ wurde ein röchelndes „Ktn“, aus „Hein“ ein „Hn“ und beim Anker wurde das „A“ ebenfalls weggelassen.
Als sich dann der Daumen des Juristen senkte, erlebte das Lokal einen Freudentaumel in einer Lautstärke, wie ihn die ehrwürdigen Räume seit Wallensteins Zeiten wohl nicht wieder erlebt hatten.
Die Gäste im Nebenzimmer zuckten zusammen. Einer wollte wissen: „Was ist denn das für ein Gebrüll?“
„Nichts besonderes“, sagte der Ober, „da hat Hein nur wieder den Anker fallen lassen.“