Ein Traum – vom Winde verweht

„Guck mal Mama, was der Mann für einen komischen Hut aufhat. Der Junge zeigte mit dem Finger auf einen baumlangen Herrn, der ihnen entgegenkam.

Der Mann blieb stehen und sagte: „Das ist ein Stetson, my Boy“, und er lüftete den Hut und grüßte die Mama. Ich hörte an der Aussprache: Nicht allein der Hut, sondern auch sein Slang wies ihn als waschechten Amerikaner aus.
Er wandte sich an mich. „Sie können mir tun einen Gefallen, “ sagte er zu mir, „Besorgen Sie mir eine Taxi.“ Ich war auf dem Wege zu meiner Redaktion, vielleicht sprang eine Geschichte raus bei dieser Begegnung. Er lehnte sich auf das Brückengeländer, unter uns floss träge der Fluss in Richtung Stauwehr. „Schöne Gegend hier“, seufzte er, „lange nicht gesehen, aber kaum verändert.“
Er erzählte in knappen Worten: Er sei lange vor dem Krieg ausgewandert, habe gute Freunde gehabt in dieser Stadt und Umgebung, er wohne nun mit seiner Familie in Cincinnati in den USA und wolle nun versuchen, seine Bekannten zu finden und über alte Zeiten zu plaudern. „Man hängt ja doch an diesem Land, was immer auch geschehen ist“, sagte er. Ich unterbreitete ihm einen Vorschlag: Ich wollte ihn zu seinen Bekannten fahren mit meinem Wagen, und er erzähle mir seine Geschichte.

In kurzen Worten: Von Beruf Maurer, arbeitslos wie so viele, damals, kurz entschlossen zur Auswanderung, Aufbau einer Existenz „Drüben“, nach einigen Schwierigkeiten dann Aufbau eines Baugeschäfts. Zwei Söhne im inzwischen zu einem der größten Bauunternehmen der Stadt angewachsenen Betrieb. „So langsam will ich mich zur Ruhe setzen.“ Sagte er. Seine Söhne hätten alles fest im Griff. Ob er seine Auswanderung bereut habe? „Nein, nur das Heimweh macht einem auf die alten Tage zu schaffen.“ Darum diese Rückkehr an die Stätten seiner Jugend.
Es entwickelte sich in den Tagen des Zusammenseins eine echte Freundschaft. Ich brachte ihn zu seinen Besuchszielen und abends trafen wir uns dann im Hotel auf ein paar Bier. Schon am zweiten Tag sollte ich ihn „Henry“ nennen. Eines Abends rückte er mit einer Bitte raus: „Ich würde gerne auch meine entfernten Verwandten „drüben“ besuchen.“ „Drüben“, das hieß damals Sowjetzone. Ein und Ausreise war schon kompliziert, für einen Ausländer und dann noch Amerikaner nicht ungefährlich, schnell war man mit der Anklage der Spionage zur Hand. Ich versuchte Henry den Besuch auszureden. „Es ist zu gefährlich“, doch davon wollte er nichts wissen. „Das wäre doch gelacht, die paar Kilometer und da soll ich nicht hinbekommen?“ Er habe schon ganz andere Dinge gedreht.

„Ich werde versuchen Dir zu helfen“, versprach ich und ließ einige Verbindungen zu Freunden in den zuständigen Ämtern spielen. Sie halfen ebenfalls und dann klappte die Geschichte denn auch:
Mit falschen Papieren versehen, machte Henry sich auf gen Osten. „Benimm Dich vollkommen normal, halt den Mund im Zug und hau ab wenn es brenzlig wird.“ Reden durfte er nicht, d denn dann hätte man ihn sofort erwischt.
Henry fuhr los und war nach vier Tagen wieder da, glücklich müde und unversehrt. „Ich habe sie alle gesehen, nun kann ich beruhigt nach Hause fahren und Mammi berichten.“ Er freute sich so, dass ihm die Tränen kamen.

Und dann sagte er:“ Hab Dank für Deine Hilfe, das werde ich nicht vergessen. Ich mache Dir einen Vorschlag: Komm rüber, Du passt zu uns, ich habe weite Beziehungen, auch zu den Herausgebern der Zeitungen in Cincinnati, ich kann Dir beim Start helfen. Ich sollte mir das überlegen. Und ich überlegte die drei Tage in denen Henry noch unser Gast war, der Gedanke nahm langsam aber sicher realistische Züge an. Warum nicht in den USA etwas Neues beginnen? Was Henry geschafft hatte sollte man doch auch fertig bringen. Wann wurde einem damals schon so eine Gelegenheit geboten?

Ich schrieb über den Besuch eine Reportage, baute etliche Fotos mit Henry vor den Sehenswürdigkeiten der Stadt und der Umgebung, mit seinen alten und neuen Freunden und gab sie ihm mit auf die Rückreise. „Für Deine Mami, damit sie auch weiß, was Du alles erlebt hast bei uns.“

Und dann war der Tag des Abschieds gekommen, viele begleiteten ihn zum Bahnhof und winkten im nach, bis sein Stetson aus dem Abteilfenster in der Ferne verschwand. Neue Begegnungen verdrängten die Erlebnisse mit Henry in den nächsten Wochen und die Erinnerungen wurden immer schwächer. Dann kam der Brief aus USA. Darin eine l00 Dollar-Note „eine Frau braucht immer Strumpfgeld, sicher auch Deine.“ Und eine knappe Aufstellung, was er alles an Papieren benötigt – falls ich mich doch entschließen sollte, nach Cincinnati zu kommen.

„Und teile mir bitte mit, ob Du dann vor oder nach dem Weihnachtsfest fahren willst.“ War der Schlusstext des kurzen Schreibens. Die Überlegung mit der Frau dauerte nicht lange. „Los, machen wir und wenn, dann schon vor Weihnachten. Nicht mehr lange hinauszögern.“ Der Entschluss war also gefasst, es mussten nur noch die Unterlagen besorgt werden. Das war weniger schwierig als zuerst gedacht Ab ging die Post in die USA. Inzwischen wurden Pläne gemacht, wie der Haushalt aufzulösen sei, wie das mit den Berufsbeziehungen zu regeln sei.

Dann kam ein zweiter Brief aus Cincinnati.

Er enthielt unsere Unterlagen und – die Todesanzeige von Henry. Er war nach kurzer Krankheit verstorben, er habe noch von mir gesprochen. Kein Wort mehr von einer Reise in die USA. Mit Henry war ein guter Freund verstorben und ein Traum verflogen. Er war wohl noch der Einzige der Familie, dessen Gedanken ab und zu in der alten Heimat weilten. Die Angehörigen hatten die Verbindung längst gekappt. Und da war da auch kein Platz für einen jungen Mann aus einer Kleinstadt in einem verwüsteten Land, die man auf einer Karte kaum finden konnte. „Wer weiß, wofür es gut ist“, sagten unsere Freunde. Ja, wer weiß?