Die weiße Wolke

Wenn Willi seine Kollegen zusammenrief, hatte er stets ein volles Haus. Die Friseure des Kreises wussten, was sie an ihrem Obermeister hatten: bei den Innungsversammlungen war immer was los, Willi machte aus jeder banalen Sitzung einen Festakt, eine Plenarsitzung. Wir nannten ihn: „Die weiße Wolke“.
Willi war, wie gesagt, Obermeister der Friseurinnung, er war ein kleiner rosiger Mann, mit stets freundlichen Augen, der seinen Beruf liebte. Genauso wie ein freundliches Helles und der seiner Überzeugung treu blieb.

Willi war Kommunist, keiner von denen, die nach dem Krieg ihre politische Neigung laut heraus trompeteten und oft genug gut damit fuhren. Er gehörte zu den stillen im Lande, machte aus seiner politischen Anschauung aber kein Hehl. Und dafür war er auch im KZ gelandet.

Willi hat nie davon erzählt, wo er gewesen ist, was sie mit ihm gemacht haben. Nur manchmal brach es aus ihm heraus. Und dann stand er auf und deklamierte „Die weiße Wolke wandert“ Es war kein großes Gedicht, mehr ein Kinderreim von drei oder vier Strophen. Er trug es auch meist vor wenn sein Pegelstand die rote Linie erreicht hatte. Er deklamierte das Gedicht dann mit großem Pathos und weitaus wallenden Bewegungen. Und manchmal war er von seinem Vortrag selbst so ergriffen, dass er nicht weiter deklamieren konnte.

Zuerst haben wir über ihn und sein Gedicht gelacht, nachher nicht mehr, dann haben wir still zugehört, auch wenn wir es schon auswendig konnten. Wir wussten nämlich dass er das Gedicht im KZ erdacht hatte. Wie gesagt, Willi war Friseur und kein Dichter, aber wie das manchmal so vorkommt: Er konnte seinen ganzen Gefühle in einige Zeilen legen. Viele würden sie kitschig nennen, oder kindisch oder einfach sagen: „Das ist kein Gedicht, das ist ein Zustand“. Nur, Willi hatte in diese Zeilen seine ganze Sehnsucht nach Freiheit und der Heimat gelegt. Und das spürte jeder, der sich die Mühe machte, einen Moment still zu bleiben und zu zuhören wie er die weißen Wolken über den blauen Himmel schickte, ihnen Grüße auftrug an seine Lieben, an sine Freunde und seine Heimat und das er hoffte bald wieder unter ihnen zu sein.

Wer ihn näher kannte, der lachte nicht mehr wenn Willi am Stammtisch erschien und seine „Weiße Wolke “ vortrug. Gemäß seiner Überzeugung hatte er auch nichts mit den Kirchen im Sinn. Sein Geschäft lag am Marktplatz mit weitem Blick in die Innenstadt. Von hier und von seinem Arbeitsplatz konnte ihm nichts entgehen. Er war, wie jeder Friseurlehrling im ersten Lehrjahr zu kapieren hatte, wohl informiert. Ein Friseur, der über die Interna der Nachbarschaft und darüber hinaus nicht Bescheid weiß, der taugt nicht zu dem Berufe. Er sollte Kamm und Pinsel an den Nagel hängen. Er wohnte auch in der Nachbarschaft der Superintendantur. Superintendant und Innungs-Obermeister grüßten sich bei der Begegnung, wenn Willi vor seinem Geschäft stand und der Geistliche den Weg zur Kirche antrat mit Achtung.

Bis dann eines Tages bei Willi ein Schreiben hereinflatterte womit die Superintendantur um ein Kirchengeld bat, um irgendwelche Aufgaben besser erfüllen zu können, wie man schrieb. Und man bat, beiliegende Zahlkarte baldigst zu benutzen. Der Obermeister sah sich das Schreiben an, legte es beiseite, setzte sich an seinen Schreibtisch, und am nächsten Tag fand der Superintendent unter seiner Post eine Rechnung. Briefkopf: Obermeister der Friseurinnung des Landkreises. „Sehr geehrter Herr Superintendent, anbei finden Sie eine Rechnung über: l Mal Haarschneiden l0 Mark, Haarwäsche 5 Mark, Rasieren 2.50, zusammen 17.5o DM
Bitte den Betrag mit beiliegender Zahlkarte zu überweisen.

Hochachtungsvoll…

Der „Supus“ staunte, „Ich muss da mal was klären“, sagte er zu seiner Sekretärin und schritt die wenigen Meter zu seinem Nachbarn Obermeister.
„Lieber Herr Obermeister“, sagte er zu Willi, der gar nicht überrascht tat als er den hohen geistlichen Herrn seinen Salon betreten sah, „ich habe hier eine Rechnung von Ihnen bekommen. Das kann wohl nicht stimmen. Ich betrete“, und damit sah er sich in dem sauberen Laden um, „dieses Geschäft in meinem Leben zum ersten Mal. Da habe ich mir bei Ihnen auch noch nicht die Haare schneiden lassen.“ Willi nickte beifällig. „Sehr richtig“, sagte er. „Ja und, wie komme ich dann dazu diese Rechnung zu bezahlen?“ fragte der Superintendent. „Sehen Sie, „ meinte Willi, „das ist der Kern der Angelegenheit: „Ich habe ihren Salon, Verzeihung, Ihre Kirche, auch noch nie betreten und soll Geld überweisen. Habe ich mir gedacht: wie Du mir, so ich Dir, und wir wären quitt.“
Es ist unbestätigt dass der Supus die 17.50 DM schließlich bezahlt hat und Willi den gleichen Betrag an die Kirche überwiesen haben soll. Womit der Kirchenmann dann eigentlich für Willi gespendet hätte. Bestätigt ist auch keinesfalls, dass sich der Supus einige Tage später bei dem Herrn Obermeister hat rasieren lassen.
Er hatte einen schlechten Tag erwischt. Willi hatte, wie man damals schon sagte, bereits einen kleinen im Kragen und fuchtelte gefährlich mit seinem Rasiermesser durch die Gegend. Da konnte es nicht ausbleiben, dass er an des Superintendenten Kinn einen kleinen Schmiss anbrachte.
Der Supus zuckte zusammen und meinte „Das kommt vom vielen Saufen.“

„Ja, ja, „ habe dann der Obermeister aller Zeiten erwidert, „das macht die Haut so spröde.“