Am Brunnen vor dem Tore

Jonny war Sergant der Besatzungstruppe. Das Quartier der Tommys war im Schloss von Wrisbergholzen. Die Sergantmesse im beschlagnahmten Haus von Elektromeister Heunecke. Und hier spielte sich auch diese Geschieht ab…
Jonny war ein Typ wie ihn jede Truppe dringend benötigt.
Er war ein begnadeter Organisator, bei seinen Kameraden beliebt, weil er alles heranschaffen konnte, bei seinen Vorgesetzten unentbehrlich, da er den Kontakt zwischen Offizieren und Mannschaft erfreulich gestaltete. Kurzum, Jonny war ein „Kumpel“…

Ich lernte ihn kennen, als er in einer Tanzstunde mal reinguckte. Ich hämmerte gerade, den Schläger vom „Papermoon“ in die Tasten und er sagte, dass er sich wundere woher ich dieses englische Lied kenne. Wir kamen ins Gespräch. „Vor dem Krieg war ich für einige Zeit bei Euch drüben“ gab ich ihm Bescheid. Er ließ mir eine halbe Schachtel Zigaretten da, er hatte sie diskret auf dem Klavier deponiert. Es entwickelte sich eine Art Kameradschaft, ohne dass ich den Wunsch hatte, nun dem Sieger devot um den Bart zu gehen. So kam er dann eines Morgens in meine Wohnung. „Hans“ sagte er „ich soll Dir von meinen Leuten bestellen, sie hätten Dich heute Abend gerne bei einer Party dabei. Sie haben gehört Du verfügtest über ein größeres Repertoire von britischen Liedern und Schlagern. Ob DU die nicht mal vortragen wolltest. Ein Klavier ist vorhanden.“ Ich sagte „Nein“. Zunächst. „Jonny, Du bist der Sieger, mich haben sie in die Pfanne gehauen. Musst Du verstehen. Jetzt soll ich für Euch Musik machen. Aber er kriegte mich doch rum. „Es sind auch deutsche Damen geladen.“ sagte Jonny.

Und die wollte ich nun kennen lernen. Ich ging hin. Die Damen waren aus dem Ort und aus der Nachbarschaft, sie trugen Abendkleider, hergestellt aus der Seide unserer Fallschirme, die wir auf dem Flugplatz Wernershöhe damals zurücklassen mussten. Nun erfüllte der Stoff einen besseren Zweck. Es gab Punsch, ein Teufelszeug. Und ich spielte die Lieder von Bonni, der über den Ozean geschifft war und von der Isle of Capri, die seinerzeit sehr im Schwange war. Und wir sangen dann später gemeinsam Lilli Marlen und Blue Birds over the white Cliffs of Dover, intonierten englische Volkslieder, die Sergants hatten ihre Freude. Getanzt wurde kaum noch, ums Klavier hatte sich ein Kreis von Männern gebildet, die offensichtlich Heimweh hatten. Dann sah ich ihn an der Tür stehen.
Er lehnte gegen den Pfosten, die Hände in den Taschen vergraben, er trug die Uniform eines Oberleutnants, offensichtlich hatte er die Erlaubnis erhalten, die Sergantmesse zu betreten. Er sah mich an und sagte in akzentfreiem Deutsch: „Können Sie bitte das Lied: Am Brunnen vor dem Tore spielen?“ Und er fügte hinzu „Sie wissen, aus der Winterreise.“

Das ging im Moment recht schwer in meinen bezechten Kopf. Da wollte einer ein deutsches Lied hören, wenige Wochen, nachdem sie uns in die Wüste geschickt hatten und wir seitdem im Regen standen und mit dem Schicksal versuchten fertig zu werden, nicht ganz frei von Vorwürfen gegen ein nach unserer Meinung ungerechtes Schicksal.
Ich nickte ihm zu, griff leise in die Tasten, spielte die erste Strophe, und summte dann den Text der nächsten Strophen mit. Der Hut flog mir vom Kopfe, ich wendete mich nicht. Und blickte zu dem Oberleutnant auf. Und da sah ich tief erschreckt, dass ihm die hellen Tränen die Wangen herab liefen. Er wischte sie mit dem Handrücken weg, sagte leise „Danke Ihnen“, drehte sich um und verschwand.
„Komischer Kerl“ sagte ich mir „Ein Offizier der weint, das gibt es nur bei den Tommies.“
Der Abend wurde noch hart, Dem Punsch folgten einige Whiskys meine neuen Freunde brachten mich nach Hause. Im Auto, nicht mit einem Jeep, sondern mit einem Panzerspähwagen. Worauf im Dorf die Kunde ging am kommendem Tag: „Sie haben ihn verhaftet.“ Jonni kam und erkundigte sich nach meinem Befinden. Ich stöhnte „Oh mein Kopf, wie macht Ihr bloß Euren Punsch?“ Und dann fiel mir ein: „Was war denn das gestern für ein Kerl der Oberleutnant, der das deutsche Lied von mir hören wollte und dann verschwand?“
Jonni zögerte einen Moment und sagte dann „Das ist unser Dolmetscher, er ist Jude, und ihr habt ihn damals rausgeworfen. Er kam wenigstens noch mit dem Leben davon, seine Eltern nicht.“ Er hat uns mal in einer stillen Stunde erzählt, er habe mit seinen Eltern oft das Lied gesungen „Am Brunnen vor dem Tore“. „Kann ich ihn sprechen?“ fragte ich Jonni nach einer Pause. „Heute Morgen ist er abgereist, ich soll Dir sagen, dass Du das Lied sehr gut gespielt hast.“
„Der Hut flog mir vom Kopfe, ich wendete mich nicht“ Seitdem kann ich das Lied nie mehr hören ohne das tränenfeuchte Gesicht des Oberleutnants vor mir zu sehen und an seine Geschichte zu denken, die ich gerne von ihm erfahren hätte. Ich habe ihn nicht wieder gesehen.